Die Lesenden Künste

Die Tage der Lesenden Künste fanden 2023 in Kooperation mit dem Ilse-Aichinger-Haus in Wien statt, unter dem Titel “Das Ilse-Aichinger-Haus der Lesenden Künste”.
Ilse Aichinger sagte 1972, im Gespräch mit Heinz F. Schafroth:

Ich weiß nicht, wie man meine Texte lesen soll, ich kann nur sagen, wie ich selbst Texte lese, die mich zugleich anziehen und mir Schwierigkeiten machen. Ich lese sie so, wie ich etwas suche, das verloren gegangen ist, indem ich zuerst das Suchen suche, die Form zu suchen, und wenn ich es gefunden habe, merke ich, dass ich eigentlich die Form zu finden gefunden habe, im Fall des Textes, die Form zu lesen, und dass Lesen und Schreiben wie Suchen und Finden sich einander bis zur Identität nähern können. Diese Form zu lesen hat sich bewährt, und ich glaube, sie steht jedem offen.

Lesen, so wie es Aichinger hier konturiert, ist weniger eine Technik als vielmehr eine Kunstform, die Zeit braucht. Die Langsamkeit ist dabei nicht nur eine Freude, wie es Aichinger in einer Aufzeichnung des Jahres 1977 notierte, sondern auch eine Form des Lesens, um der kleinen Elemente gewahr zu werden, des Nebensächlichen und der scheinbar unbedeutenden Nebenwege. Langsamkeit ist eine Form von Anfänglichkeit. Mit ihr sieht man den Text immer wieder anfangen, immer wieder neu ansetzen. Das langsame Lesen spürt die Widerständigkeit der literarischen Sprache, sucht ihren Reichtum und ihre Schönheit. Erst der Langsamkeit eröffnen sich die leicht zu übersehenden Alternativen, also die weite Welt. Das heißt: Je langsamer ich reise, desto weiter reise ich. Und je mehr sich beteiligen, umso mehr kann entdeckt werden.

Im Rahmen der Lesenden Künste wird ein gemeinsames Lesen gepflegt; alle können sich mit ihren Leseeindrücken und Erfahrungen einbringen, die das allzu rasche Verstehen verzögern. So ergibt sich eine Vielzahl an Perspektiven, aus denen ein Text betrachtet werden kann. Gemeinsam wird erkundet, was die Sprache tut, was angedeutet, verschwiegen, worauf hingewiesen wird.

Das Ilse-Aichinger-Haus der Lesenden Künste fand vom 4.–8. Oktober 2023 in Wien statt. Im Zentrum standen die Bücher Kleist, Moos, Fasane (S. Fischer, 1987/1991) und Kurzschlüsse. Wien (Ed. Korrespondenzen, 2001) mit einem lokalen Augenmerk auf den 3. Wiener Gemeindebezirk.

Teilnahme der Komponistin Susanna Ridler, der bildenden Künstlerin Natalie Neumaier und des Urbanisten Thomas Kohlwein.

Am Samstag, den 7. Oktober, gab es um 19 Uhr eine öffentliche Veranstaltung , in den Räumlichkeiten des Vereins Versatorium:

Am Modenapark 8-9
1030 Wien

 

ARCHIV

20. Juli – 24. Juli 2022

Sprache in Kriegs/Friedenszeiten – die tage der lesenden künste

„Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß
etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht.“
Karl Kraus

Mehrere Tage lang lesen in einem Buch erlaubt: Langsamkeit.

Langsamkeit ist eine Methode, um der kleinen Elemente gewahr zu werden, des Nebensächlichen und der scheinbar unbedeutenden Nebenwege. Langsamkeit ist eine Form von Anfänglichkeit. Mit ihr sieht man den Text immer wieder anfangen, ansetzen. Der Langsamkeit eröffnen sich die leicht zu übersehenden Alternativen, also die weite Welt. Je langsamer ich reise, desto weiter reise ich. Langsames Lesen spürt die Widerständigkeit der literarischen Sprache, sucht deren Reichtum und die Schönheit. Hier wird ein kollektives gemeinsames Lesen gepflegt, jeder kann sich mit seinen Lese-Eindrücken und Erfahrungen einbringen, so ergibt sich eine Vielzahl an Perspektiven, aus denen ein Text betrachtet werden kann. Gemeinsam wird erkundet, was die Sprache tut, was angedeutet, verschwiegen, worauf hingewiesen wird. Es ist eine Leseforschung, eine sprachliche Detektivarbeit, die neugierig auf das Unerwartete ist.

Die Lesenden Künste suchen den Reichtum und die Schönheit des Widerständigen, des Flüchtigen, des Spiels, des Unfertigen und des Kaum-Verstehens. Die Lesenden Künste werden von Personen aus der Literatur, aus dem Schauspiel und der Musik vorbereitet. Die Lesenden Künste wollen in verschiedenen geistigen und (sprach-)geschichtlichen Räumen wirken. Das Interesse an Übersetzbarkeit möchten wir fördern, an der Veränderlichkeit der Werke, an der Veränderlichkeit der Erkenntnisse.

Die Tage der Lesenden Künste sind im Jahr 2022 Karl Kraus gewidmet:

Wir lesen Die letzten Tage der Menschheit. Als Gesprächsgrundlage dient die 1986 erschienene Taschenbuchausgabe der Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog.

Kraus‘ Drama scheint ein spektakuläres Werk zu sein, das spektakulär und laut reagiert auf Gewalt und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Doch ist es wahrscheinlich kein Spektakel und kein aufführbares Theaterstück, sondern eher ein Dokument der Zurückhaltung und Verschwiegenheit, welche im Lesen und Vorlesen zum Vorschein kommen können, im Regieführen und Inszenieren aber zu verschwinden drohen.
Dem korrupten Gerede und Denken, der Rohheit und Gefühllosigkeit widerspricht eine leise Stimme, die aufdeckt, daß die sogenannte Sprache der Propaganda keine Sprache ist, daß Sprache erst entstehen und sprechen kann, wenn sie schwach und absichtslos sein kann, unsicher und zögernd, unfertig und fast unbekannt.
Die Propaganda will Bekanntschaft schließen, sie behauptet die Bekanntschaft der Welt. Das Drama von Karl Kraus zeigt die Unbekanntschaft und wie man Unbekanntschaft schließt.
Die Propaganda will. Die Sprache aber nix wollen, Herr Hofrat, nix, nix, gar nix wollen – nur sprechen – nur sprechen – nur sprechen, so antwortet im Vorspiel der Kammerdiener dem, der sagt: Sagen S‘ was Sie von uns wollen.

Zum Lese-Workshop findet heuer ein öffentliches Begleitprogramm statt. Dazu und mehr zum Konzept der Lesenden Künste weiter unten.

mit
Peter Waterhouse, Schriftsteller und Übersetzer
Katharina Lütten, Schauspielerin
Thiemo Strutzenberger, Schauspieler
Michael Riessler, Klarinettist und Komponist

 

Lese-Workshop
Zeit: 20. bis 24. Juli 2022
Ort: D-32816 Schwalenberg, an verschiedenen Orten

Teilnahmegebühr: inkl. Verpflegung 200 €
Anmeldung und Buchung bis zum 1. Juli 2022 unter: reservierung@eu-lab.de

Stipendium: Wer die Teilnahmegebühr und die Unterbringungskosten wegen Ausbildungs- und Übergangszeiten nicht aufbringen kann, für den besteht die Möglichkeit, ein Stipendium zu beantragen, das die Teilnahme- und Aufenthaltskosten deckt. Anmeldung und Bewerbung mit einseitigem Motivationsschreiben und Lebenslauf bis zum 1. Juli 2022 an info@eu-lab.de

Informationen und Fragen zum Programminfo@eu-lab.de

Übernachtungsmöglichkeiten in Schwalenberg bieten Landhaus Klusmann, Bed and Breakfast Berggarten, Hotel Malkasten

 

Öffentliche Veranstaltungen
Freier Eintritt, Spenden erbeten

20. Juli 2022, 17.00 Uhr 
Peter Waterhouse, Anmerkungen zu Die letzten Tage der Menschheit
Gang zum jüdischen Gedenkstein und Ehrenmal, Dohlenberg
Treffpunkt: 16.45 Uhr auf dem Marktplatz

22. Juli 2022, 20.30 Uhr
Michael Riessler, Klarinette, Konzert
Ort: Ev.-ref. Kirche Schwalenberg, Papenwinkel 14

24. Juli 2022, 11.30 Uhr
Lesung mit Hunden „Gefundenes Fressen“, Gedichte von Karl Kraus
Ort: Galerie Haus Bachrach, Marktstraße 5; bei schönem Wetter auf der Wiese des Landhauses Klusmann, Unterm Fleck 57

 

Die Tage der Lesenden Künste werden gefördert von:

     

    

 

Wir danken:

         

 

WEITERE VERANSTALTUNGEN DIESER REIHE:

Robert Walser, Jakob von Gunten
31.10. – 03.11.2019, mit Peter Waterhouse, Jörg Partzsch, Brigitte Labs-Ehlert

Ingeborg Bachmann, Malina 
06.12. – 09.12.2018, mit Peter Waterhouse, Sebastian Rudolph, Maja Osojnik, Brigitte Labs-Ehlert

Inger Christensen, Det/Das 
23.11. – 26.11.2017, mit Peter Waterhouse, Barbara Nüsse, Sebastian Vogel, Thomas Kürstner, Brigitte Labs-Ehlert